Noten sind von großer Bedeutung für die allermeisten Schüler*innen. Warum gibt es die Benotung? Was sind die Chancen und was die Grenzen von Schulnoten? Welche Aussagekraft haben sie, wem nutzen sie – und brauchen wir sie wirklich? Diesen und vielen weiteren Fragen ist der Landeselternausschuss in seiner Sitzung nachgegangen. In diesem Bericht bündeln wir wichtige Argumentationslinien aus zwei Vorträgen vom 17.11.2023.

Inhaltsverzeichnis

Vortrag: „Leistungsbeurteilung, Lernerfolgsrückmeldung und das (meist vergebliche) Bemühen um Gerechtigkeit in der Schule und im Leben“

1. Die Vermessung des Menschen

2. Grundwiderspruch unseres Schulsystems

3. Mechanismen und Effekte der Zensurengebung

Wem nützen Zensuren?

Was leisten Zensuren nicht?

Täuschung

Beschämung

Gibt es Alternativen?

Alternativen zur Notengebung: 1. Indikatorenzeugnisse

Alternative zur Notengebung: 2. Lernentwicklungsberichte

Fazit

Vortrag zu Pädagogik und weitgehender Notenfreiheit an der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule (WvH-GemS)

Fragen & Antworten

Der erste Text stammt von
Prof. i. R. Dr. Jörg Ramseger, FU Berlin, FB Erziehungswissenschaft u. Psychologie 

Vortrag: „Leistungsbeurteilung, Lernerfolgsrückmeldung und das (meist vergebliche) Bemühen um Gerechtigkeit in der Schule und im Leben“

1. Die Vermessung des Menschen

Schon sehr lange gibt es Bemühungen, Menschliches wissenschaftlich zu messen und zu vermessen – in der Anthropometrie seit mehreren Jahrhunderten. Anfang des 20. Jahrhunderts war das eine klar rassistische Wissenschaft, in der häufig die Argumente nicht einmal mit den Messergebnissen übereinstimmten.

Sich zu messen scheint vielen Menschen ein wichtiges Bedürfnis zu sein – im Vergleich mit anderen, oder im Vergleich mit sich selbst. Das ist wohl ein aktueller Trend. Aber es gibt auch alte Traditionen zur Veröffentlichung von Messdaten. Geburtsanzeigen beispielsweise enthalten sie regelmäßig: „Hannah-Sophie ist geboren! 50 cm, 2900 Gramm“. Es geht jedoch kaum um das Neugeborene, sondern eher um die „Leistungsdaten“ der Gebärenden. Das Perverse an solchen Geburtsanzeigen ist, dass niemand sie pervers findet.

Schon im Vorschulalter schicken Eltern ihre Kleinen häufig in (Sport-) Wettbewerbe, die komplexe Leistungen auf die Frage reduzieren, welche drei Teilnehmenden schließlich aufs Sieger-Treppchen kommen. Die Tränen der Unterlegenen werden einfach hingenommen.
In Kopenhagen dagegen ist es beispielsweise seitens der Schulbehörde verboten, im obligatorischen Grundschul-Sportunterricht überhaupt sportliche Messdaten zu erheben. Denn die Kinder sind unterschiedlich und der Bewegungsunterricht ist für alle da. Die Bewegungslust der unsportlichen Kinder soll durch das Messen und Vergleichen nicht abgewürgt werden.

Festzuhalten ist: Qualität entsteht durch ständige Überarbeitung und Korrektur. Das ist ein fundamentaler Bestandteil jeder handwerklichen, intellektuellen und künstlerischen Arbeit.
Das führt zu einem

2. Grundwiderspruch unseres Schulsystems

Das Schulsystem hat hier nämlich einen grundlegenden Mangel. Wolfgang Klafki hat beschrieben, was unter Leistung zu verstehen ist: Der „Vollzug und das Ergebnis einer Tätigkeit, die mit Anstrengung verbunden, auf die Erlangung eines Zieles gerichtet und auf Gütemaßstäbe und Anforderungen bezogen ist.“1

Eine solche Leistung kann zwar benotet werden.

In der Schule geht es aber zunächst um eine Lernerfolgsrückmeldung – also eine Rückmeldung darüber, wie, mit welchen Schwerpunkten, mit welchen Entwicklungsbedarfen der/die betreffende Schüler*in gelernt hat. Darauf haben alle Lernenden einen Anspruch: „Das hast du gut gemacht“, „Hier fehlt noch etwas“, oder: „Hier ist ein Unsinn an dieser Stelle.“ „Ich habe deinen Aufsatz gelesen, schau mal, hier ist er noch etwas wirr – und so könntest du ihn verbessern.“ Also eine differenzierte Rückmeldung, die dabei hilft, das Lernen zu entwickeln und die Arbeit zu verbessern.

Eine Leistungsbewertung bewertet jedoch neben der eigentlichen Leistung immer auch das Leistungsvermögen eines Kindes mit. Dafür kann das Kind ja aber gar nichts.

Es gibt ganz unterschiedliche Verfahren der Lernerfolgsrückmeldung, und sie haben ganz verschiedene Wirkungen. Im Kern besteht ein Grundwiderspruch zwischen zwei gegensätzlichen Funktionen. Einerseits soll die Schule die Schüler*innen fördern (pädagogische Funktion). Sie soll aber auch eine Auslese treffen (gesellschaftliche Funktion). Das ist ein doppelter Auftrag.

Pädagogische Funktionen der Leistungsbeurteilung:

  • Lernerfolgsrückmeldung an den/die Schüler*in selbst: Wie erfolgreich habe ich gelernt?
  • Orientierung für Eltern: Ist mein Kind in der Schule erfolgreich?
  • Motivation der Schüler*innen für bessere Leistungen
  • Disziplinierung der Schüler*innen

Gesellschaftliche Funktionen der Leistungsbeurteilung:

  • Zensuren ermöglichen die Auslese von wenigen, wenn sich viele um eine rare Chance bewerben (Selektions- und Allokationsfunktion). So funktioniert unser Staat; die Wirtschaft hat noch andere Kriterien.
  • Zensuren üben in das Konkurrenzprinzip ein. Das ist die Sozialisationsfunktion von Schule für unser Wirtschaftssystem: „Versuche immer, besser zu sein als deine Mitbewerber*innen. Du musst sie im Wettbewerb ausstechen!“

Aus wissenschaftlicher Sicht ist es unmöglich, dass ein und dasselbe Instrument diese diametral unterschiedlichen Funktionen seriös erfüllen könnte.

3. Mechanismen und Effekte der Zensurengebung

Wichtig ist: Ziffern-Zensuren sind immer Symbole für subjektive (!) Werturteile der Lehrkräfte: Die Lehrkraft findet eine Leistung "gut" oder "befriedigend" oder "Ausreichend". Diese Urteile sind insbesondere im mittleren Leistungsbereich meistens nicht eindeutig. Hervorragende und auch ganz schlechte Arbeiten sind sofort zu erkennen. Aber im mittleren Bereich ist es in vielen Fächern ganz schwierig, die Leistung eindeutig zu bestimmen – daher ist gerade hier ein hohes Maß an Subjektivität enthalten.

Aber: Die Ziffern suggerieren genau eine solche Eindeutigkeit. Damit befriedigen sie die Sehnsucht der Menschen nach Gerechtigkeit (in den Abiturnoten mit Bewertungen in mehreren Nachkommastellen mit vorgeblich höchster Genauigkeit).

Diese gewünschte Eindeutigkeit steht jedoch in völligem Gegensatz zur Realität in Unterricht und zur Beurteilungssituation. Denn es urteilen Menschen in einer individuellen Situation anhand des persönlichen Maßstabs der eigenen beruflichen Erfahrung – und im Vergleich zu Leistungen von Mitschüler*innen, die stark vor dem Hintergrund der zufällig zusammengesetzten Lerngruppe zu sehen sind.

Häufig gibt es eine Art Gaußsche Verteilung der Noten. Außerdem sind Zensuren zwischen verschiedenen Lehrkräften und unterschiedlichen Schulen nicht wirklich vergleichbar. Aber genau solche Vergleiche erfolgen ständig, vor allem bei Übertritts-Entscheidungen. Zensuren hängen aber in hohem Maße der Lerngruppe ab, in der sie erhoben werden. Ein Umzug oder Schulwechsel verändern den Notenschnitt häufig nennenswert, obwohl der/die Schüler*in sich ja nicht verändert hat. Das ist auch schlüssig, denn Lernerfolgsrückmeldungen machen nur in Bezug auf einen konkreten Unterricht durch eine konkrete Lehrkraft Sinn.

Ein Kind mit ungünstigen Lernvoraussetzungen hat in einer leistungsstarken Klasse von vornherein kaum Chancen. Seine Situation ist fast immer aussichtslos.

Wem nützen Zensuren?

  • Zensuren nützen schnell lernenden Kindern. Sie werden zu weiteren Anstrengungen ermutigt. Aber: Dafür brauchen diese Kinder gar keine Zensuren. Sie wissen ja ohnehin, dass sie erfolgreich sind.
  • Manchmal nutzen Zensuren Schüler*innen, die hinter sich selbst zurückbleiben – also ein höheres Lernpotenzial haben, als sie aktuell nutzen. Aber: Das gilt nur dann, wenn sie eine reale Chance haben, sich wieder zu verbessern. Daran dürfen sie dann aber nicht gehindert sein – beispielsweise durch Krankheit, Flucht, Trennung der Eltern, …
  • Zensuren nützen vor allem der Gesellschaft: Sie legitimieren die Auslese weniger, wenn sich viele auf etwas bewerben, aber nur wenige auserwählt werden sollen. Aber: Zensuren liefern keine Gerechtigkeit, sondern stützen lediglich den „kollektiven Selbstbetrug“ der Gesellschaft (Helmut Becker, Gründer des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung), dass wir in einer vermeintlich gerechten Gesellschaft leben.
  • Zensuren nützen Eltern. Sie geben eine schnelle Rückmeldung und ersparen es ihnen, sich mit der Schule ausführlich auseinanderzusetzen – solange alles glatt läuft. Schlechte Zensuren dienen als „Warnleuchten“ für Eltern. Schlechte Zensuren sind ein Warnsignal: Jetzt muss ich eingreifen / helfen. Diese Funktion erfüllen die Zensuren tatsächlich gut.

Was leisten Zensuren nicht?

  • Zensuren liefern keine korrekten Angaben über die Lern-Möglichkeiten der Kinder, also ihr Lernpotenzial.
  • Zensuren liefern keine hinreichend verlässliche Basis für Übertritte. Die Prognosesicherheit bei Übertrittsempfehlungen auf die weiterführende Schule auf Notenbasis liegt – je nach Berechnungsverfahren – zwischen 65 und 70%. Das bedeutet, dass 30% der Übertrittsempfehlungen sich in der Realität als falsch erweisen.
  • Zensuren geben auch keine Hinweise für ein erfolgreiches Weiterlernen.

Der genannte Grundwiderspruch zwischen Förderung und Auslese wird in der Schule durch zwei Verhaltensweisen vertuscht: durch Täuschung und Beschämung.

Täuschung:

  • Zensurenzeugnisse zeigen nicht, dass der Lernerfolg auch maßgeblich von der Qualität des Unterrichts und weiteren Faktoren abhängt. Sie schieben die ganze Verantwortung auf das lernende Kind und vertuschen die Mitverantwortung der Lehrkräfte, der Eltern und den allgemeinen Lebensumständen des Kindes für den Lernerfolg. Nur die Kinder bekommen Zensuren, nicht aber die Lehrkräfte. Würde die Mitverantwortung des pädagogischen Personals für den Lernerfolg dokumentiert, bräuchten Lehrkräfte ganz teure Haftpflichtversicherungen – ähnlich wie Hebammen.
  • Diese Vertuschung ist auch gewollt – denn das Kind soll glauben, dass es für seinen Erfolg oder Misserfolg ganz und gar selbst verantwortlich ist. So lernen die Schüler*innen das meritokratische Leistungsprinzip: „Das meritokratische Leistungsversprechen setzt voraus, dass Unterschiede nicht nur markiert, sondern als Platzierungskriterium von allen Beteiligten anerkannt und akzeptiert werden müssen.“2
  • Diese Täuschung funktioniert häufig auch als Selbsttäuschung der Lehrkräfte.

Beschämung:

  • Langsam lernende Kinder können dem Vergleich mit den von der Herkunft begünstigten, schneller lernenden Kindern niemals gerecht werden.
  • Sie beziehen das Notenurteil – zumindest im Grundschulalter – nicht nur auf die einzelne benotete Leistung, sondern auf ihre ganze Person. Sie verinnerlichen: „Ich bin ein*e schlechte Schüler*in, ich bin dumm, ich versage.“ Hieran hat auch eine negative Reaktion der Eltern ihren Anteil, wenn sie von einer mittleren oder schlechten Note enttäuscht sind.
  • Die Forschung zeigt: Schlechte Noten haben – gerade für schlechte Schüler*innen – eine negative Auswirkung auf das Begabungs-Selbstbild. Sie sind eine permanente Entmutigung. Die Ziffernbenotung vernichtet systematisch die Leistungsfähigkeit des langsam lernenden Kindes. Das hat langfristige Folge für Selbstwertgefühl, Bildungsentwicklung und auch soziales Verhalten.
  • Daher hat die KMK bereits 1973 mit gutem Grund die Notengebung in den Jahrgängen 1 und 2 abgeschafft und sie für die Jahrgänge 3 und 4 freigestellt.
  • Eine Karikatur von Hans Traxler macht das Vorgehen bildlich greifbar: Ganz unterschiedliche Tiere erfahren ihre Aufgabe. Eine Lehrperson teilt ihnen mit, um der gerechten Auslese willen laute die Prüfungsaufgabe für alle gleichermaßen, sie sollten auf den Baum klettern. Was offensichtlich für einzelne ganz leicht, für andere schlechterdings unmöglich ist. (siehe die Karikatur hier: https://www.zsb-os.de/fileadmin/_processed_/b/5/csm_Diversitaet_Traxler_48cf3ce543.png)
  • Wer das Lernen zum Wettkampf zu macht, produziert notwendigerweise Verlierer*innen. Denn nur die Niederlage der anderen lässt die Siegenden strahlen. In freiwillig betriebenem Sport ist das okay – aber dazu gibt es im Sport auch unterschiedliche Ligen. Schule ist nicht freiwillig, sondern Pflicht.

Zusammenfassend ist festzustellen, dass die Schule schlechte Leistungen durch Noten nicht nur dokumentiert, sondern auch (mit) produziert! Ziffern-Noten vernichten systematisch die Leistungsfähigkeit eines langsam lernenden Kindes – mit dem Effekt, dass es am Ende glaubt, es sei gerecht, dass es nicht aufs Gymnasium dürfe. Beschämung hat hier System.

Gibt es Alternativen?

Ist denn das Lehrer*innen-Urteil mithin blanke Willkür? Nein, das ist es nicht! Es ist ein individuelles, subjektiv gefärbtes und von Erfahrung getragenes fachliches Ermessensurteil. Es wird „nach bestem Wissen und Gewissen“ gefällt. Als erfahrungsbasiertes Ermessensurteil ist es wertvoll und (meist) auch pädagogisch wirksam.

Aber es ist mathematisch nicht eindeutig. Man kann nicht guten Gewissens Zugänge zu weiteren Chancen daran knüpfen und umgekehrt auf Notenbasis Menschen von Bildungsgängen ausschließen. (Und dieses Prinzip gilt tatsächlich eigentlich nur im Bildungswesen. Nach ihrer Ausbildung werden Menschen an anderen und häufig ganz unterschiedlichen Kriterien gemessen, auch in der Wirtschaft.)

Wichtiger als Leistungen zu messen, wäre es, die Leistungsbereitschaft aller Kinder herauszufordern und permanent zu unterstützen, also Leistungsbereitschaft zu entwickeln, statt sie durch die Notengebung permanent zu zerstören. Am Wichtigsten ist, dafür eine entwicklungsförderliche Lernkultur zu schaffen:

  • Das Erleben eigener Kompetenzen ermöglichen durch verschiedene (= differenzierte) Aufgabenstellungen.
  • Autonomie-Erleben durch verschiedene Freiheiten im Unterricht, z. B. in der Themenwahl und bei der Bewältigung von Aufgaben (etwa durch Freiarbeit, Wochenplan-Unterricht, Lernen in Projekten, …).
  • Soziale Einbindung stärken, gerade für langsam und schwerer lernende Schüler*innen.
  • Das Lernen an relevante Inhalte binden, die für die Schüler*innen lebensnah, einsichtig und bedeutsam sind.

Rückmeldungen durch Lehrer*innen sollten …

  • in Form einer sachlichen, konkreten Werkkritik erfolgen – nicht mit Bewertungen wie „gut“ oder „mangelhaft“;
  • hilfreiche Hinweise geben, dabei aber
  • keine Vergleiche oder Bewertungen vornehmen, denn gerade für langsam lernende Kinder stellen Bewertungen immer Abwertungen dar.

Eltern...

  • … können und sollten bedingungslose Unterstützer*innen ihrer Kinder sein, in jeder Situation, auch und gerade bei Misserfolgen.
  • Sie können Mut machen und mit ihren Kindern ein wenig üben.
  • Sie können bei Misserfolgen trösten – aber niemals tadeln oder mit Geschwistern vergleichen.
  • Sie sollten nicht mit Belohnungen oder Geld zu besseren Noten motivieren wollen – denn das erhöht nur den Druck auf das Kind.

Ein Gegenbeispiel:
Wenn man die Ziffernzensuren abschaffen will, muss man alternative Lernerfolgsrückmeldesysteme einführen, die auch die Eltern einbeziehen. Das System der Lernerfolgsrückmeldungen an der Grundschule Brück in Brandenburg sieht beispielsweise vor:

  • Individuelle Lernvereinbarungen mit jedem Kind, für ½ Jahr
  • Permanente individuelle Lern- / Verbesserungsrückmeldungen
  • Regelmäßige Kind-Lehrer*innen-Gespräche (dreimal pro Jahr)
  • Selbsteinschätzungen der Kinder, noch vor den Kind-Lehrer*innen-Gesprächen. Eigene Leistungen selbst reflektieren lernen.

Alternativen zur Notengebung: 1. Indikatorenzeugnisse

Zur Rechtslage in Berlin: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/grundschule/#zeugnis

Beispiel eines Indikatoren-Zeugnisses für das Fach Mathematik: https://www.berlin.de/sen/bildung/schule/bildungswege/grundschule/zeugnismuster-mathematik.pdf?ts=1685085142

Indikatorenzeugnisse sind viel präziser als Ziffernnoten. Sie müssen aber auch interpretiert werden. Eltern können Indikatorenzeugnisse leicht missverstehen (zum Beispiel, also ob es sich um 4-stufige Notenzeugnisse handelte), deswegen sind dazu Gespräche mit den Eltern zwingend nötig. Außerdem sind Indikatorenzeugnisse sehr umfangreich.

Alternative zur Notengebung: 2. Lernentwicklungsberichte

Schriftliche Lernentwicklungsberichte beleuchten unterschiedliche Aspekte des Lernens und der sozialen Interaktion der Schülerin / des Schülers.

Vorteile:

  • Lernentwicklungsberichte ermöglichen eine detaillierte und vollständig individuelle Lernerfolgsrückmeldung für jedes einzelne Kind. Das kann eine Lehrkraft allerdings nur für eine begrenzte Anzahl von Kindern leisten. Das Verfahren eignet sich daher z. B. gut für die Grundschule.
  • Lernentwicklungsberichte erleichtern die Differenzierung im Unterricht. Es ist das einzige Rückmeldeformat, das der Ungleichzeitigkeit von Lernprozessen Rechnung trägt.
  • Sie können gezielte Hinweise für zukünftige Lernstrategien umfassen.
  • Sie sind konkurrenzfrei und erlauben ermutigende Aussagen auch bei geringen Lernfortschritten.
  • Sie helfen auch einem langsam lernenden Kind, sein Gesicht zu wahren und sich weiterhin zu bemühen.
  • Sie zwingen die Pädagog*innen mehr als jede andere Zeugnisform, über jedes einzelne Kind sehr gründlich nachzudenken.

Nachteile

  • Lernentwicklungsberichte sind für Nicht-Pädagog*innen (auch Eltern!) manchmal schwer zu verstehen, müssen also erläutert werden.
  • Sie sind nicht immer ehrlich und beschönigen zuweilen die geringen Leistungen eines Kindes (was aber andere Zeugnisformen ähnlich machen – auch Lernentwicklungsberichte sollen ehrlich sein und Entwicklungsnotwendigkeiten benennen und Hinweise geben).
  • Sie erfordern eine gewissen schriftstellerische Kompetenz der Pädagog*innen.
  • Sie zu schreiben erfordert viel Zeit.
  • Sie sind in den meisten Bundesländern nur bis Klasse 2 üblich, danach entscheiden die Eltern.

In Berlin sind Lernentwicklungsberichte als Zeugnisform bis zum 1. Halbjahr der Klasse 9 erlaubt (siehe SchulG § 58 (4), hier u. a. Satz 6: „In der Integrierten Sekundarschule und der Gemeinschaftsschule kann die Schulkonferenz mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer stimmberechtigten Mitglieder beschließen, dass ab der Jahrgangsstufe 3 bis längstens einschließlich des ersten Schulhalbjahres der Jahrgangsstufe 9 der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler durch schriftliche Informationen zur Lern-, Leistungs- und Kompetenzentwicklung beurteilt wird.“).

Fazit

Der pädagogische Auftrag der Grundschule besteht darin, „mit den gesellschaftlichen Anforderungen an den individuellen Lernfähigkeiten anzuknüpfen, Leistungsbereitschaft aufzubauen und zum Leisten zu befähigen“.3

Das Prinzip der Notengebung in der Schule widerspricht bei langsam lernenden Kindern grundsätzlich diesem Ziel. Die Notengebung wirkt hier leistungsvernichtend und ist daher pädagogisch durch nichts zu rechtfertigen. Außerdem ist sie gesellschaftlich nicht wünschenswert.
Wirklich differenzierende und individualisierte Aussagen über die Lernbemühungen und die Lernerfolge jedes einzelnen Kindes im Zeugnis sind derzeit nur in Form eines Lernentwicklungsberichts rechtlich möglich.

Allerdings kann auch der beste Lernentwicklungsbericht nicht besser sein als der Unterricht, aus dem er hervorgeht und aus dem er berichtet.

Alternativen:

  • Zurückdrängung der Notengebung auf einen späteren Zeitpunkt – also in einen Lebensabschnitt, in dem die Kinder die Subjektivität der Bewertungsverfahren schon durchschaut haben und daher nicht mehr so persönlich nehmen.
  • Die Erprobung von individualisierten Lernerfolgsrückmeldungen, auch in höheren Klassenstufen z. B. in Gemeinschaftsschulen, etwa im Rahmen von Schulversuchen.

Weitere Informationen
https://grundschulverband.de/sind-noten-nuetzlich-und-noetig/

Der zweite Text stammt von
Judith Bauch, Schulleiterin Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule

Vortrag zu Pädagogik und weitgehender Notenfreiheit an der Wilhelm-von-Humboldt-Gemeinschaftsschule (WvH-GemS)

„Jede*r ist anders, keine*r ist gleich, wir alle gemeinsam, Lernen ist leicht“ – unter diesem Motto steht das Leben und Lernen an der Schule seit vielen Jahren.

Die Schule wurde 2008 neu gegründet. Aktuell sind an der Schule 960 Schüler*innen und 125 Pädagog*innen. Es gibt eine gymnasiale Oberstufe im Verbund im Schulversuch, den Schulversuch Hybrides Lernen, 30 Lerngruppen der Jahrgänge Saph bis 10, 12 Lerngruppen der Jg. 11 bis 13, 3 Willkommensklassen (seit 02/22). Die Schule umfasst drei Häuser an zwei Standorten.

An der WvH-GemS gibt es so lange wie möglich keine Noten. Noten erscheinen erstmals zum Ende des 9. Jahrgangs auf dem Zeugnis. Damit nutzt die Schule den Rahmen des Berliner Schulgesetzes (SchulG §58 (4) Satz 6: „In der Integrierten Sekundarschule und der Gemeinschaftsschule kann die Schulkonferenz mit der Mehrheit von zwei Dritteln ihrer stimmberechtigten Mitglieder beschließen, dass ab der Jahrgangsstufe 3 bis längstens einschließlich des ersten Schulhalbjahres der Jahrgangsstufe 9 der Lernerfolg der Schülerinnen und Schüler durch schriftliche Informationen zur Lern-, Leistungs- und Kompetenzentwicklung beurteilt wird.“).

Da viele Schüler*innen ab der ersten Klasse ihre gesamte Schullaufbahn hier verbringen, kennen viele von ihnen vor der 9. Klasse Noten nur aus Erzählungen.

Das Prinzip der Notenfreiheit ist eng mit der pädagogischen Grundhaltung der WvH-GemS verbunden. Hier steht das einzelne Kind im Mittelpunkt. Das bedeutet:

  • Es gibt für jedes Kind ein passendes Lernangebot.
  • Die Gemeinschaft trägt dazu bei, mehr Chancengerechtigkeit unabhängig vom Elternhaus herzustellen.
  • Alle am Schulleben Beteiligten begegnen sich auf Augenhöhe und übernehmen Verantwortung für sich und für andere.
  • Die Kinder werden bis zum Schulabschluss begleitet.

Die Säulen der pädagogischen Arbeit sind:

  • individualisiertes Lernen und projektorientiertes / kooperatives Arbeiten
  • jahrgangsübergreifendes Lernen (1-3, 4-6 und 7-9; nur Jg. 10 jahrgangshomogen)
  • keine äußere Leistungsdifferenzierung
  • Notenpunkte erstmals Ende 9 auf dem Zeugnis
  • selbstverantwortliches Arbeiten im Zusammenhang mit anderen Formen der Leistungsbeurteilung und der Lernbegleitung
  • ein wertschätzender und motivierender Umgang miteinander
  • langes gemeinsames Lernen

Das Vorhaben wurde folgendermaßen auf den Weg gebracht und umgesetzt:

  • 2008 Gemeinschaftsschule als Pilotvorhaben im Schulversuch gegründet
  • grundsätzliches Konzept mit Notenfreiheit vom Gründungsteam entwickelt (SK-Beschluss)
  • Eine Vielzahl ineinandergreifender Lerninstrumente entwickelt: Kompetenzraster und Fahrstühle, Checklisten / Pläne, Logbuch (geht jeden Tag mit nach Hause und soll am Wochenende von den Eltern unterschrieben werden – ist ein wichtiges Instrument der Einbindung und Kommunikation mit den Eltern), Portfolioarbeit (geht ebenfalls vor den Zeugnissen mit nach Hause), Ziel- und Bilanzgespräche, Coaching (als einfache Teilungsstunde realisiert – die Hauptlerngruppenleitung ist parallel zum Fachunterricht mit einzelnen Schüler*innen im Gespräch; diese Ressource wird bei auch bei der Notwendigkeit von Vertretungen erst als letzte eingesetzt, damit das Coaching wirklich stattfindet)
  • Nutzung des Rahmenlehrplans mit Niveaustufenband

Wie werden diese Prinzipien aufrechterhalten?

Die Eltern dabei sind wichtige Partner*innen.

  • Willkommenskultur nicht nur den Kindern, sondern auch den Eltern gegenüber ganz wichtig
  • Gemeinsam Schulhöhepunkte begehen und feiern
  • Eltern des Einzugsgebiets erhalten bei der Anmeldung Infos und Fragemöglichkeiten, damit sie eine gute Entscheidung treffen können. Eltern sollen wirklich auf diese Schule wollen, damit sie auch die Entwicklung der Kinder gut begleiten können.
  • Elterntagung unter dem Motto: „Lernt mein Kind genug?“
  • Die Leistungsdaten der Schüler*innen überzeugen.

Vorteile des Vorgehens

  • Das nicht-Sortieren / nicht-Vergleichen unterstützt die Kinder, ihren eigenen Weg zu gehen.
  • Das Grundbedürfnis, etwas zu lernen, bleibt den Kindern in der Regel erhalten.
  • Kinder stehen einfach auf und helfen einander.
  • Das ganze emotionale Beiwerk von Noten findet einfach nicht statt.
  • Die Eltern erfahren sehr konkret, was die Kinder können. Allerdings brauchen die Eltern eine Erklärung für die komplizierten Zeugnisse. Es gibt Entwicklungszeichen, wann Kinder sich entwickelt haben.

Fragen & Antworten

Frage: Erfüllt die Schule noch den Auftrag der Allgemeinbildung, den ihr die Gesellschaft stellt (SchulG §1)?
Ramseger: Schule ist ein System in sich. Vieles an diesem System ist sehr gut. Aber es gibt auch Furchtbares, dazu zählen die Zensuren. Dennoch ist ganz viel pädagogische Arbeit in der Schule sehr wichtig und sehr gut. Und die Schüler*innen brauchen die Schule (denn die Eltern können das ja nicht selbst machen, die Eltern sind keine ausgebildeten Pädagog*innen). Nein, die Schule verfehlt nicht vollständig ihre Ziele. Aber sie hat das Problem, dass ihr Auftrag widersprüchlich ist.

Frage: Was können Eltern gegen den Effekt der Abwertung von Schüler*innen durch schlechte Noten tun? Welche Tipps und Hinweise haben Sie für Eltern?
Ramseger: Es ist nicht einfach, gegen die zerstörende Wirkung zu handeln. Ganz wichtig ist, das Kind -nicht- nach den Noten beurteilen und zu wertschätzen. Sondern das Kind spüren zu lassen, dass die Wertschätzung durch die Eltern selbst bei schlechtesten Noten ungebrochen sein wird. Nehmen Sie das Kind in den Arm: „Mach dir nichts draus, es wird besser werden, wir kämpfen gemeinsam darum.“ Am schlimmsten ist es, gute Noten zu bezahlen – das sollten Eltern auf keinen Fall tun. Denn dann wird das Kind bei schlechten Resultaten doppelt bestraft: durch die schlechte Note und das ausbleibende Geld.

Frage: Ist an dem Bild etwas dran, dass ältere Lehrkräfte besser bewerten?
Ramseger: Lehrkräfte müssen lernen, treffende und hilfreiche Rückmeldungen zu geben. Wer zum Beispiel in den Quereinstieg startet, kann das in der Regel noch nicht, weil die Person eben noch nicht gelernt hat darüber nachzudenken, was eine pädagogisch wertvolle Rückmeldung ist. Selbstverständlich müssen dies auch Lehrkräfte erst einmal lernen, und hierbei sind auch die eigene Erfahrung, die eigene Praxis und die damit zusammenhängende Selbstbeobachtung und Selbstreflexion als Lehrkraft wichtig.

Frage: Benötigen Lehrkräfte unterschiedliche Kompetenzen für Indikatorenzeugnisse oder Lernentwicklungsberichte, im Unterschied zu Bewertungen mit Noten?
Ramseger: In der Tat werden Lehrkräfte hierfür in der Regel nicht ausgebildet. Aber sie sind Fachleute für Lernen und haben – wie jeder berufstätige Mensch in jedem anderen Beruf – auch die Pflicht, sich auch selbst immer weiterzuentwickeln. An Schulen ohne Noten gibt es häufig Anleitung, wie Indikatorenzeugnisse oder Lernentwicklungsberichte hilfreich sind und wie sie verfasst werden sollten – eben damit neu an die Schule kommende Lehrkräfte dies schnell lernen können. Andererseits weist das Thema darauf hin, dass eine Personalzuweisung ohne Mitwirkung der jeweiligen Schulleitung nicht sinnvoll ist. Außerdem zeigt sich, dass eine unmittelbare Vollverantwortung für Quereinsteigende oder Studierende eben auch wegen der wichtigen Lernerfolgsrückmeldungen nicht sinnvoll ist, denn die Menschen müssen ja zunächst selber die Maßstäbe kennenlernen und entwickeln. - im Rahmen einer soliden Lehramtsausbildung.

Frage: Lehrkräfte haben in der Praxis erhebliche Entscheidungsspielräume, zum Beispiel auch durch die Entscheidung darüber, in welcher Weise eine Leistung überprüft wird. Wie können Kindern Misserfolge erspart werden?
Bauch: Individualisiertes Lernen ist schon lange im Schulgesetz festgeschrieben. Als System Schule sind wir hier langsam. Schule zu gestalten ist eine große Aufgabe, die viel Erfahrung und viel voneinander-Lernen braucht. Die WvH-GemS ist inzwischen sehr bekannt, unter anderem auch als Teamschule (2 x 60min Teamzeit oberhalb des Deputats), was junge Kolleg*innen sich gerade wünschen. Das führt dazu, dass die Schule so privilegiert ist, viele Bewerbungen zu erhalten.

Frage: Wie ist an der Schule die Erfahrung mit Kindern / Familien, die aus einer Erfahrungswelt mit Noten kommen und nun den Einstieg in die Notenfreiheit an der WvH finden müssen?
Bauch: Die WvH-GemS ist eine durchgehend in allen Jahrgängen dreizügige Schule, auch das ist eine Besonderheit. Beim Wechsel von der 6. zur 7. Klasse bleiben 95-99% der Kinder an der Schule. Es gibt also entsprechend nur wenige Schüler*innen, die „von außen“ einsteigen. Mit ihnen sind die Erfahrungen gut.

Frage: Wie schaffen die Schüler*innen den Übergang ins Notensystem? Wie wird das gestaltet, wie erleben Sie das, wie gut läuft das?
Ramseger: Eine Möglichkeit ist es, im letzten notenfreien Halbjahr ein „strenge-Schule-Spiel“ zu machen. Vor längerer Zeit gab es so ein Projekt, damals haben die Kinder in weiterführenden Schulen verschiedener Schulformen hospitiert. Danach wurde in der eigenen Schule geübt: Tische in Reih und Glied, „Kirchenbestuhlung“ statt Gruppenarbeit, strenger Unterricht. Die Kinder fanden das nicht gut – wollten aber auch nicht mehr zurück in die freie Schule, die sie vorher hatten, wollten sich selbst auf die "strenge Schule" vorbereiten. Eine Befragung von Eltern und Lehrkräften ein Jahr nach dem folgenden Schulwechsel ergab, dass die Schüler*innen die Motivation zum eigenständigen Lernen sehr schnell verloren haben, insbesondere in der Hauptschule, aber auch im Gymnasium. Aber die Kinder gewöhnen sich schnell um, die jede Richtung, ins Notensystem hinein oder heraus.

1 Klafki, Wolfgang (1989), Leistung. In: Lenzen, D. (Hrsg.) Pädagogische Grundbegriffe, Band 2, Reinbek: Rowohlt Taschenbuch Verlag, S. 983 – 987, hier S. 983

2 Wischer, Beate (2022): …die Sympathie gilt „stets der Erziehung und nicht der Selektion“. Zu den gesellschaftlichen Funktionen schulischer Leistungsbewertung. In: Friedrich Jahresheft Nr. 40: Leistung: ermöglichen und beurteilen. Seelze: Friedrich Verlag. S. 16-19

3 Einsiedler, W. (2000) Bildung grundlegen und Leisten lernen in der Grundschule. In: Kahlert, J. u. a. (Hrsg.) Grundschule: Sich Lernen leisten. Theorie und Praxis. Neuwied: Luchterhand, S. 37 – 49, hier S. 46